Fehlerkultur

Fehlerkultur: Was ist ein produktiver Umgang mit Fehlern?

Zahnräder

Wie in einer Organisation mit Fehlern umgegangen wird, sagt einiges aus über die Organisationskultur. Andererseits können Fehler genutzt werden, um das Lernen in einer Organisation zu gestalten. Mit Fehlern produktiv umgehen, bedeutet zu akzeptieren, dass Fehler passieren. Es bedeutet sich auf die Vermeidung der gravierendsten Fehler zu beschränken und möglichst systematisch aus den doch passierenden Fehlern zu lernen. Eine Organisation mit einer produktiven Fehlerkultur zeichnet sich durch eine Haltung gegenüber Fehlern aus, die es Mitarbeitenden erlaubt, offen und frei von Angst vor Sanktionen oder Diskreditierung darüber zu sprechen.

Autor: Michael Herzig, Dozent, ZHAW Soziale Arbeit, Institut für Sozialmanagement
Bilder Schwerpunkt: Luc-François Georgi

Standardisieren Sie noch oder lernen Sie schon?

Fehler als Chance zum Dialog in der Qualitätsentwicklung

Wie in einer Organisation mit Fehlern umgegangen wird, sagt einiges aus über die Organisationskultur. Andererseits können Fehler genutzt werden, um das Lernen in einer Organisation zu gestalten.

«Ein Fehler ist kein Gegenstand der Beurteilung, sondern das Resultat der Beurteilung eines Gegenstands» (Gartmeier et. al. 2015, 33). Dem Wetter ist es egal, wenn die Prognose falsch war, der Meteorologin schon weniger, doch wird sie nach dem trotz Prognose eingetretenen Hagelschlag gegenüber dem Winzer und seiner Versicherung argumentieren, dass von einer fehlerhaften Prognose nur dann gesprochen werden könne, falls eine Genauigkeit von 100 Prozent versprochen würde, bei einer kurzfristigen Voraussage könnten aber höchstens 90–95 Prozent erwartet werden, und auch das nur bei stabiler Wetterlage. Der Schüler und die Schülerin, die an der Aufnahmeprüfung des Gymnasiums scheitern, haben im Unterschied zur Meteorologin keine Definitionsmacht über die Beurteilungskriterien. Selbst wenn sie in einen partizipativen Prozess einbezogen würden, um die Prüfungskriterien intersubjektiv auszuhandeln, blieben ökonomische, soziale und kulturelle Machtunterschiede bestehen (Gartmeier et. al., 40). Der deutsche Pädagoge Helmut Heid weist mit Nachdruck darauf hin, dass Definition und Anwendung von Fehlerkriterien sich auch «als Mittel bzw. Massnahmen der Machtausübung, der Disziplinierung oder gar der Unterdrückung verwenden» liessen (Gartmeier et. al., 40). Das ist ein guter Grund, auf Standardisierung beruhende Qualitätsmanagementsysteme zu hinterfragen. Ein weiterer ist, dass man nur das standardisieren kann, was man bereits kennt.

Mit der Unterscheidung verschiedener Organisationskulturen stellt sich die Frage, wie Fehler definiert werden

 

Fehler als Thema in der Qualitätsentwicklung

Zu einem Qualitätsmanagementthema wurden Fehler in den 1960er- und 1970er-Jahren in Industriezweigen mit hohen Sicherheitsrisiken (Flugverkehr, Atomindustrie), wobei die Kontrolle und die Vermeidung von Fehlern im Vordergrund standen (Schreyögg 2015, 224). Ab den 1980er- Jahren wurden Fehler zunehmend Gegenstand sozial-, geistes- und wirtschaftswissenschaftlicher Studien (Gartmeier 2015, 8–9). Dabei wurde versucht, das Entstehen von Fehlern mit psychologischen oder organisationssoziologischen Ansätzen zu erklären. Der Umgang mit Fehlern wurde als möglicher Ausdruck von Organisationskultur gesehen (Schreyögg 2015, 225 f.; Grillitsch 2013, 22).
Mit der Unterscheidung verschiedener Organisationskulturen stellt sich die Frage, wie Fehler definiert werden. Der britische Psychologe James Reason unterscheidet zwi- schen Ausführungsfehlern, die er als Patzer oder Missge- schicke bezeichnet, und Fehlern in der Planung. Während Ausführungsfehler auf den Fertigkeiten der Ausführen- den beruhen, können Planungsfehler strukturelle Ursa- chen haben. Reason trennt auf Wissen basierende von auf Regeln zurückzuführenden Fehlern (Reason 1994, 82 ff.).

 

Besonderheiten sozialer Organisationen

Regeln können nicht nur als explizite Verhaltensanweisungen verstanden werden, sondern auch als implizite Normen und Werte. Häufig überlagern sich gegensätzliche Normen, was die Mitarbeitenden zwingt, Entscheidungen zu treffen. In der Sozialen Arbeit entstehen solche Zielkonflikte typischerweise aus dem Gegensatz zwischen Nutzerorientierung und Institutionsorientierung. So kann es im Rahmen des Empowerments methodisch zweckmässig sein, einem Alkoholiker oder einer Drogenabhängigen in einer Tagesstruktureinrichtung Vertrauen zu schenken und Verantwortung zu übertragen, beispielsweise für die Einkäufe, und dieser Person dazu Bargeld auszuhändigen. Dem Controller und der Revisorin wird dies bestenfalls suspekt vorkommen, eine Politikerin oder ein Journalist könnten zu einer weniger wohlwollenden Einschätzung gelangen, wodurch operatives Handeln zum strategischen Thema wird. Das Management dieser Organisation sollte den Mitarbeitenden mit einer Haltung zu solchen Zielkonflikten Orientierung geben.

Im Institut für Sozialmanagement der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) wurden im Rahmen einer unveröffentlichten Vorstudie (Meyer, Pascale/ Herzig, Michael: Fehlerkultur in Sozialen Organisationen, 2015) drei Organisationen im Hinblick auf den Umgang mit Fehlern untersucht: ein kommunaler Sozialdienst, ein Gefängnis und eine Poliklinik für heroingestützte Behandlungen. Aufgrund dieser Fallbeispiele wurden drei mögliche Typen von Fehlerkulturen skizziert:

  • Fehler als Damoklesschwert über den Köpfen der Mitarbei­tenden: Diese Organisation ist geprägt durch rigide Regeln und eine hohe Normendichte, die Mitarbeitenden sind starkem Kontrolldruck ausgesetzt, Fehler sind explizit kein Thema, implizit omnipräsent.
  • Fehler als Risiko und Chance zugleich: In dieser Organisation besteht ein Regelwerk zur Überwachung und Vermeidung von Fehlern, gleichzeitig werden Anstrengungen unternommen, trotz Kontrolldruck angstfrei über Fehler zu sprechen und daraus zu lernen.
  • Fehler als Lernfeld: In dieser Organisation wird ein konstruktiver Umgang mit Fehlern im Leitbild postuliert. Für die Umsetzung sind Verfahren, Gefässe und Instrumente definiert, deren effektive Nutzung stark von der verantwortlichen Führungsperson abhängt.

 

Lernen aus Fehlern

Organisationen lernen nur, wenn Individuen lernen, was wiederum von den organisationalen Rahmenbedingungen beeinflusst wird. Wird Fehlerkultur zu einem Gegenstand zielgerichteter Organisationsgestaltung, erfordert dies Lernprozesse auf individueller, teambezogener und organisationaler Ebene (Grillitsch 2013, 22). In Anlehnung an Elke Schüttelkopf, die die Bedeutung der Führungskräfte für die Fehlerkultur betont (Schüttelkopf 2013, 29 ff.), lassen sich drei Interventionsebenen identifizieren, um die Fehlerkultur einer Organisation zu gestalten: Haltung, Kompetenzen und Instrumente.
Mit einer klaren Haltung fördert das Management einer Organisation den offenen Umgang mit Fehlern, wenn diese Haltung verbrieft ist und vorgelebt wird. Zu den Kompetenzen gehört insbesondere die Fähigkeit zum Dialog, den der amerikanische Organisationstheoretiker Peter Senge als Schlüssel für den Erkenntnisgewinn in Teams definiert und begrifflich von der Diskussion abgrenzt, deren primäres Ziel nicht das Lernen sei, sondern die Entscheidungsfindung.

Das Instrumentarium für das Lernen aus Fehlern sollte nicht nur auf das Vermeiden von Fehlern ausgerichtet sein, sondern muss Gelegenheit schaffen, Fehler (anonym) zu melden und für die Angebots- und Qualitätsentwicklung zu nutzen. Wie ein Prozess der dialogischen Qualitätsentwicklung konkret ausgestaltet werden kann, haben Reinhart Wolff et. al. für den Kinderschutz exemplarisch aufgezeigt (Wolff et. al. 2013). Letztlich geht es darum, Massnahmen auf struktureller und auf kultureller Ebene im Sinne der Organisationsstrategie auszubalancieren.

 

Was ist ein produktiver Umgang mit Fehlern?

Grundsatz

Mit Fehlern produktiv umgehen, bedeutet zu akzeptieren, dass Fehler passieren, sich nicht darauf zu versteifen, unbedingt stets alle Fehler zu verhindern, sondern sich auf die Vermeidung der gravierendsten Fehler zu beschränken (Qualitäts- und Risikomanagement sowie interne Kontrollsysteme), sowie aus Fehlern möglichst systematisch zu lernen, statt nur zufällig.

 

Haltung

Eine Organisation mit einer produktiven Fehlerkultur zeichnet sich durch eine Haltung gegenüber Fehlern aus, die es Mitarbeitenden erlaubt, offen und frei von Angst vor Sanktionen oder Diskreditierung darüber zu sprechen.

Diese Haltung

  • ist schriftlich festgehalten (Leitbild, Führungs- und Arbeitsgrundsätze).
  • ist konkret formuliert mit einem direkten Bezug zur Arbeit der Mitarbeitenden.
  • wird von den Vorgesetzten vorgelebt und im Rahmen der Personalführung thematisiert
  • (persönliches Feedback, Zielvereinbarungs- und Beurteilungsgespräche).

Damit die formulierte Haltung nicht Theorie bleibt, sondern gelebt werden kann, bedarf es verschiedener Voraussetzungen. Es muss

  • Zeit zur Verfügung stehen, um über mögliche oder tatsächlich gemachte Fehler zu
  • diskutieren und daraus zu lernen.
  • ein Führungsverhalten vorgelebt werden, das es erlaubt, ohne Schuldzuweisungen
  • über Fehler zu diskutieren.
  • ein Instrumentarium eingeführt werden, das es ermöglicht, Gelerntes festzuhalten
  • und sich darüber auszutauschen.
  • darauf hingearbeitet werden, dass die Vorgesetzten und Mitarbeitenden über
  • Kompetenzen im Umgang mit Fehlern verfügen.

 

Kompetenzen

Eine Organisation, in der Fehler nicht tabuisiert oder vertuscht werden, sondern genutzt werden, um die Qualität zu verbessern oder um auf neue Ideen zu kommen, fördert die Kompetenzen im Umgang mit Fehlern, indem

  • die Mitarbeitenden sich gegenseitig Feedback geben.
  • Reflexionsverfahren vorgesehen sind, die es den Mitarbeitenden ermöglichen, über Fehler zu sprechen, Ursachen und Rahmenbedingungen von Fehlern zu hinterfragen und aus Fehlern zu lernen (Nachbesprechungen, Debriefings, Lessons Learned, Supervision oder Intervision).
  • Verfahren und Gefässe vorhanden sind, die es erlauben, zu lernen um Arbeitsprozesse, Instrumente und auch Strukturen zu verbessern (Qualitätszirkel).
  • Mitarbeitende mit den Konsequenzen von Fehlern nicht allein gelassen werden, sondern bei deren Bewältigung unterstützt werden.

 

Instrumente

Damit Mitarbeitende produktiv mit Fehlern umgehen können, braucht es ein Instrumentarium, das es ermöglicht,

  • Fehler zu vermeiden (QM-Systeme, Prozessbeschreibungen, Konzepte, Checklisten).
  • Fehler (anonym) zu melden (Critical Incident Reporting System (CIRS), Vorschlagswesen).
  • Fehler für die Qualitätsentwicklung zu nutzen (Thema an Teamsitzungen und in Workshops zur Qualitätsentwicklung).

 

Kommunikation

Eine Organisation, die konstruktiv mit Fehlern umgeht, verfügt über eine positive Grundausrichtung und eine «Ermutigungskultur», die sich auch darin äussert, wie über Fehler gesprochen wird.

Statt so: «Was ist heute schief gelaufen?»
Lieber so: «Was ist heute gerade nochmals gut gegangen?»
Mit dieser Frage kann aus potenziellen Fehlern gelernt werden.

Statt so: «Warum hast du das gemacht?
Lieber so: «Warum erschien dir das sinnvoll?»
Mit dieser Frage wird nicht böser Wille oder Inkompetenz unterstellt, sondern thematisiert, dass ein Fehler oft erst im Nachhinein als solcher erkannt wird.

 

Die Links zu den Originaltexten: